Ein Werk von Prof. Jos. Dinges, Studienprofessor und Geoplast aus Landsberg am Lech
Wir befinden uns im Jahr 1929. Das Landschaftsmodell des Allgäus bei Füssen zeigt die Topografie der Region, mit Bergen, dem Lech mit seinen Zuflüssen, dem Alpsee und Schwansee (links) sowie dem Obersee, Alatsee und Weißensee (rechts), dazu die Städte Füssen, Schwangau und Vils, einige Dörfer und viele Bauernhöfe.
Karte vs. Modell
Das Modell ist mit großer Sorgfalt naturalistisch gearbeitet. Der weitgehend hohle Unterbau besteht aus einem segmentierten Holzgerüst. Darauf ist in Gips die Oberfläche der Landschaft geformt, mit Bergen, Seen, Flüssen und Ortschaften. Auch die Siedlungen sind dreidimensional angelegt, die Häuser entweder einzeln hineingesetzt oder als Straßenzüge angedeutet. Dem Maßstab entsprechend sind die Schlösser Hohenschwangau und Neuschwanstein ebenfalls nur angedeutet und nicht detailliert ausgearbeitet. Weitere Elemente der Kulturlandschaft sind farblich angelegt. Die Farbe wurde von Hand aufgetragen. Wie in Karten üblich sind die Siedlungen rot, die Wege weiß, die Gewässer blau, die Äcker braun, die Wiesen hellgrün, die Wälder dunkelgrün und die felsigen Berggipfel grau.
Während in Karten Orte und Gewässer mit ihren Namen bezeichnet werden, ging es im Modell vor allem um die Topografie der Berg- und Voralpenlandschaft, um das Zusammenspiel von Naturraum, Siedlung und Landwirtschaft. Beschriftungen gibt es keine. Auch politische Grenzen, wie die Staatsgrenze zwischen Deutschland und Österreich, sind nicht eingezeichnet.[1]
[1] Vgl. Hilgers (Munich 2014).
Das Modell zeigt die Region im Maßstab 1:10.000. Ein Zentimeter im Modell entspricht also 100 m in der Wirklichkeit. Vorne links hat der Autor sein Werk signiert und datiert: „Prof. Jos. Dinges, Geoplast, Landsberg/L., 1929“.[2] Die hohe Qualität der Ausführung lässt darauf schließen, dass Dinges ein professioneller Modellbauer war. Vermutlich handelt es sich um Joseph Dinges, geboren 1863, Studienprofessor in Landsberg am Lech.
Landschaft en miniatur
Das Modell, eine Zeigeform vor allem im Museumsraum, zeichnet sich meist auf Grundlage von Beobachtung durch eine größtmögliche Naturnähe aus. Es weicht vor allem im Maßstab von der Realität ab und ist als Momentaufnahme ein Objekt zwischen Stillstand und Veränderung.[3] Insbesondere wenn es sich wie in diesem Fall um ein historisches Modell handelt und sich die Landschaft, vom Menschen geformt, mittlerweile stark verändert hat.
Landschaftsmodelle wurden als geografisches Informationsmedium in Wissenschaft und Schulunterricht in der Zeit, in der unser Modell entstand, sehr geschätzt, neben Karten und Zeichnungen, später auch Fotografien. Ihre Plastizität, ihre Möglichkeit, komplexe Topografie verständlich zu machen, insbesondere für Hochgebirgsregionen mit starkem Relief, verlieh ihnen eine Anschaulichkeit, die Karten nicht hergaben.
[2] Dinges wird in der Literatur meist abgekürzt genannt, „J. Dinges“ oder „Jos. Dinges“, es kommt auch Josef Dinges vor, hier wird die offizielle Schreibweise Joseph Dinges aus der Personalakte benutzt.
[3] Vgl. Keßler/Schwarz (Berlin/Boston 2023), S. 50–51.
Die Geoplastik
Warum dreidimensionale Modelle im Schulunterricht unverzichtbar seien, erklärte die Allgemeine deutsche Lehrerzeitung schon im Jahr 1855: Die „Geoplastik“ sei eine „junge Kunst“. Aber man müsse sie unbedingt fördern, denn sie „versorgt den geographischen Unterricht mit dem … ganz unentbehrlichen Anschauungsmittel“.[4] Nur anhand des Landschaftsmodells ließe sich die „Oberflächengestaltung unserer Erdkugel“[5] wirklich vorstellen. Der Autor bedauerte, dass es für diese junge Kunst keine ausgebildeten „Spezialisten“ gebe, die in der Lage seien, genügend Modelle in hoher Qualität anzufertigen. Er selbst sei als Ingenieur-Geograph seit vielen Jahren im Modellbau tätig, doch es bräuchte viel mehr gut ausgebildete Personen, um den großen Bedarf zu decken, insbesondere für die Schulen.[6]
Der Anspruch war hoch. Damit die Modelle den Ansprüchen genügten, waren wesentliche Kenntnisse im Bereich Geografie eine Grundvoraussetzung, damit Informationen aus Karten und anderen Quellen maßstabsgetreu ins dreidimensionale Format umgesetzt werden konnten.
[4] Bünger (Leipzig 1855).
[5] Bünger (Leizpig 1855).
[6] Vgl. Bünger (Leipzig 1855).
Wenige Jahrzehnte später bot sich ein anderes Bild. Inzwischen gab es einige professionell hergestellte Landschaftsmodellen von sogenannten „Geoplasten“, darunter Joseph Dinges aus Mindelheim im Unterallgäu (1904), später Landsberg am Lech. Dinges unterrichtete an einer Präparandenschule, einem Ausbildungsinstitut für angehende Volksschullehrer. Die Verbindung der beiden Tätigkeiten war nicht unüblich, denn gerade an Schulen wurden die Modelle besonders oft eingesetzt.
Dinges schuf etliche Reliefs, jeweils auf der Basis von Karten und eigenen Beobachtungen. In der Fachwelt erfuhren sie große Anerkennung. 1901 entstand ein großes Modell der Bayerischen Alpen im Maßstab 1:50.000, das die langgestreckte Gebirgslandschaft vom Bodensee bis Salzburg darstellte. Das ganze Modell maß 5,7 x 1,4 m. Dinges verkaufte es in Abschnitten und im Ganzen.[7] Sein Relief der Gesamtalpen hatte den Maßstab 1:1.000.000. Von seinem geplanten Relief von Mitteleuropa im Maßstab 1:500.000 konnte er bis 1918 nur zwei Abschnitte vollenden. Inzwischen standen seine Modelle auch in verschiedenen alpinen Museen und waren auch für den Alpenverein interessant.[8]
Unser Landschaftsmodell des Allgäus bei Füssen könnte aus einer solchen Serie gewesen sein. Womöglich war es für den Schulunterricht angekauft worden oder auch von der Kommune zur Förderung des Tourismus
[7] Vgl. Penck (1904).
[8] Vgl. Raab (1918).
Ein Blick in die Landschaft von vor 100 Jahren
Das Modell wurde vor knapp 100 Jahren angefertigt. Inzwischen hat sich in der Region viel verändert. Neu sind die starke Ausdehnung aller Ortschaften und der Stau des Lechs zum Forggensee.
In den letzten 100 Jahren haben sich Städte und Dörfer überall in Deutschland stark verändert. Es wurde sehr viel gebaut, auch in Füssen. Neue Wohnhäuser kamen dazu, Hotels für den wachsenden Tourismus, eine Kaserne, Gewerbegebiete, dazu Straßen und Tankstellen für den wachsenden Individualverkehr. In Füssen stieg Zahl der Einwohnenden von 6.970 (1925) auf 16.100 (2022). Ähnlich war es in den Dörfern, in denen es inzwischen neben Bauernhöfen auch viele reine Wohnhäuser gibt.
Die größte Veränderung der Landschaft war der Stau des Lech zum Forggensee 1952/54. Wie sah der Lech vorher aus? Das Modell von 1929 zeigt es. Ober- und unterhalb der Stadt Füssen floss der Lech in einem breiten Kiesbett, in mehreren kleineren mäandernden Läufen. Der Wunsch, die Wasserkraft des Lech zu nutzen, führte zum Vorhaben, den Lech auf der relativ ebenen Fläche unterhalb von Füssen zu einem See aufzustauen, so dass das Wasser gezielt durch Turbinen abfließen und dabei Strom erzeugt werden konnte. Der Staudamm unterhalb des heutigen Forggensees wurde von 1952 bis 1954 gebaut, und der See zu seiner heutigen Fläche aufgestaut.
Der Reiz des Analogen
Für das Museum ist es ein Glück, ein Zeugnis der qualitätvollen und anschaulichen Landschaftsmodelle von Joseph Dinges im Bestand zu haben. So ein Modell verliert seine Attraktivität für das Publikum nie. Auch wenn wir uns heute an Luftbilder aller Art gewöhnt haben und das digitale Modell das analoge scheinbar obsolet gemacht hat, bleibt es doch etwas Besonderes, wie im Vogelflug von oben auf die Gebirgs- und Seenlandschaft zu schauen, die wir im Alltag nur von unten wahrnehmen können.
Sammlung und Museum
Das breite Spektrum der Sammlung wird in der Ausstellung anhand von Einzelobjekten abgebildet. Sie werden zu Repräsentanten oder Leitobjekten der verschiedenen Konvolute und Zeiträume und weisen insgesamt auf die Vielfalt der Sammlung hin. Nicht nur die Objekte und Werke auf ihrem jeweiligen Forschungsstand, sondern auch Aspekte der Museumsarbeit werden aufgefächert: das Sammeln und Bewahren, das Präsentieren und Vermitteln.
Staunen und Wissen
Ein wichtiges Moment der Inszenierung ist das Staunen. Er steht in Verbindung mit der Naturforschung des 19. Jahrhunderts und lässt sich historisch zurückführen auf die sogenannte „Wunderkammer“, die die Zusammenkunft kostbarer und denkwürdiger Naturalien und Artefakte umfasste. In dieser Online-Serie soll das Staunen als erkenntnisfördernder Impuls reaktiviert werden.
Literatur
W. Bünger: „Über Geoplastik“, in: Allgemeine deutsche Lehrerzeitung, Leipzig, Bd. 7 (1855), 12, S. 86–87.
Michael Hilgers: „Landschaftswandel am Lech“, in: Marita Krauss/Stefan Lindl/Jens Soentgen: Der gezähmte Lech. Ein Fluss der Extreme. München 2014, S. 131–147.
Annerose Keßler/Isabelle Schwarz: „Objekte und Organismen im naturkundlichen Museumsraum. Zur Verdichtung und Entfaltung von Wissen“, in: Ella Beaucamp/Romana Kaske/Thomas Moser (Hrsg.): Objects & Organisms. Vivification – Reification – Transformation. Berlin/Boston 2023 (Object Studies in Art History; Vol. 5, ed. By Philippe Cordez).
Albrecht Penck: „Neue Reliefs der Alpen“, in: Geographische Zeitschrift, 1904, 10. Jg., 2. H. (1904), S. 95–101.
Otto Raab: „Geoplastik im Alpinen Museum“, in: Mitteilungen des Österreichischen und Deutschen Alpenvereins, Neue Folge Bd. 34 (1918), S. 115–117.
Text: Gabriele Wiesemann
Redaktion und Lektorat: Isabelle Schwarz, Tobias Ranker
© Museum der Stadt Füssen
Alle Fotos: Simon Toplak
Das Modell ist derzeit im Rathaus der Stadt Füssen ausgestellt.
Zu den bisher vorgestellten Objekten geht es hier:
Foto Titelbild: Simon Toplak
Museum der Stadt Füssen
Lechhalde 3, 87629 Füssen