Objekte digital: Zum Staunen bringen – Wissen vermitteln

Großer Torschlüssel zum Sebastianstor in der Füssener Stadtmauer, um 1500

Unser „Schlüssel zu den Schätzen des Museums der Stadt Füssen“

Auf den ersten Blick augenfällig ist seine Größe: Mit einer Länge von 30,5 cm diente dieser Schlüssel sicher nicht dazu, eine gewöhnliche Tür aufzuschließen. Er war gemacht für ein großes Schloss in einem stabilen Tor. Das Tor hat sich nicht erhalten, aber man kann es sich vorstellen: Der Schlüssel musste bis zum viereckig geschmiedeten Gesenk in das Schlüsselloch hineingesteckt werden, bevor man ihn drehen und mit dem Bart den Schließmechanismus bewegen konnte.

Großer Torschlüssel zum Sebastianstor in der Füssener Stadtmauer, um 1500
© Großer Torschlüssel zum Sebastianstor in der Füssener Stadtmauer, um 1500
Museum der Stadt Füssen, Foto: Simon Toplak

Der Schlüssel ist aus Eisen. Halm (Stiel) und Bart sind aus dem gleichen Stück Blech ausgeschmiedet. Dafür hatte der Schmied zuerst das dicke Eisenblech hergestellt, daraus den Bart ausgeschmiedet und zuletzt das Blech zu einem hohlen Halm gerollt. Der Reide (Griff) gab er die Form eines Dreipaß oder Kleeblatts. Anschließend wurde die Oberfläche verzinnt. Dass der Schlüssel oft in Benutzung war, ist an der Flickstelle an der Reide zu erkennen. Genau da, wo beim Drehen des Schlüssels die meiste Kraft wirkte, brach das Metall und musste wieder geflickt werden.

Füssen um 1500
Als der große Torschlüssel angefertigt wurde, war Füssen eine außerordentlich bedeutende Stadt, die größte im Allgäu. Sie lag an der in römischer Zeit gebauten und noch immer wichtigen Handelsstraße „Via Claudia“. Von Augsburg kommend war Füssen der Eingang zur Überquerung der Alpen. Über den Fernpass und den Reschenpass waren Bozen und Trient zu erreichen. Um 1500 stand der italienisch-deutsche Handel in voller Blüte – und ein erheblicher Teil davon lief über Füssen. Gehandelt wurden Weinfässer, Obst und Salz, Minerale, Textilien und Wolle, Farben, Spezereien (Anisöl, Chinawurzen, Muskatnuss, Mandeln, Kapern und vieles andere), Lebensmittel (Getreide, Käse, Fische), Krämereiwaren (darunter Wetzstein, Papier, Bücher) sowie auch Vieh.

Füssen und seine Stadtmauer
In dieser strategisch wichtigen Lage seines Hochstifts ließ sich der Augsburger Fürstbischof Friedrich II. von Zollern (reg. 1486 bis 1505) eine Sommerresidenz errichten. Zu seinem Schutz musste es eine wehrhafte Anlage sein. Er baute die gotische Burg zum Hohen Schloss aus, das seitdem oberhalb der Stadt thront. Zudem ließ er in den Jahren um 1500 das östliche Stadtviertel um die Pfarrkirche St. Stephan mit einer Stadtmauer einfassen. Wie damals üblich, „signierte“ Friedrich II. von Zollern sein großes Bauprojekt mit seinem Wappen, das sich über dem Sebastianstor bis heute erhalten hat. 

Während dieser Zeit kam auch der römisch-deutsche König und spätere Kaiser Maximilian I. (ab 1486 römisch-deutscher König, ab 1508 römisch-deutscher Kaiser) mit seinem Hofstaat über 30 Mal nach Füssen – vielleicht um den persönlichen Kontakt zum Fürstbischof Friedrich II. von Zollern zu pflegen, sicher auch, um sich dessen politischer und finanzieller Unterstützung in Konflikten zu versichern. Ihm folgten weitere wichtige Persönlichkeiten und Adlige aus dem gesamten Heiligen Römischen Reich. Dies trieb Kultur und Handwerk stark voran, insbesondere den Instrumentenbau.

Fundort und Zuordnung
Der große Schlüssel wurde 1935 beim Sebastianstor gefunden und dem Museum übergeben, so steht es im alten Inventarbuch. Wir können also davon ausgehen, dass er tatsächlich der ursprüngliche spätmittelalterliche Schlüssel zu diesem Stadttor war.

Form und Machart des Schlüssels lassen darauf schließen, dass er tatsächlich um 1500 angefertigt worden ist, als die Stadtmauer mit dem Sebastianstor gebaut wurde. Damals war es üblich, sehr große Schlüssel mit einer Länge von über 30 cm herzustellen und sie aus Eisen zu schmieden. Auch formal passt er in die Zeit: Der Dreipass der Reide war in der Spätgotik eine beliebte Form, die wir in zeitgenössischen Kirchenfenstern ebenfalls oft sehen (Dreipass, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Trefoil-Architectural.svg#/media/Datei:Trefoil-Architectural.svg / gemeinfrei). Wie lange der Schlüssel im Boden gelegen hat, wissen wir nicht. Er dürfte im Gebrauch gewesen sein, solange die Stadtmauer nützlich und das Stadttor in Betrieb war.

Es bleibt heute ein kleiner Zweifel, ob man mit ihm wirklich das Sebastianstor oder ein anderes nahes gelegenes Stadttor aufgeschlossen hat. Die Füssener Bürger:innen, die den Schlüssel 1935 fanden und dem Museum übergaben, haben nicht aufgeschrieben, wo genau sie ihn fanden und warum sie glauben, er könne zum Sebastianstor gehört haben. Sie lassen sich nicht mehr befragen, zu viel Zeit ist vergangen.

Was uns ein Schlüssel erzählt
Der große Torschlüssel ermöglicht uns einen tiefen Einblick in die Geschichte der Stadt Füsssen. Er erzählt uns von der Zeit um 1500, als Füssen eine wichtige Handelsstadt war, in der sich die damalig wichtigsten Herrscher und Adligen oft und gerne aufhielten. Gleichzeitig ist er als erstes Objekt, das wir online vorstellen, ein Symbol für die Erschließung der Schätze und Geheimnisse der Sammlung des Museums.


Sammlung und Museum
Das breite Spektrum der Sammlung wird in der Ausstellung anhand von Einzelobjekten abgebildet. Sie werden zu Repräsentanten oder Leitobjekten der verschiedenen Konvolute und Zeiträume und weisen insgesamt auf die Vielfalt der Sammlung hin. Nicht nur die Objekte und Werke auf ihrem jeweiligen Forschungsstand, sondern auch Aspekte der Museumsarbeit werden aufgefächert: das Sammeln und Bewahren, das Präsentieren und Vermitteln. 

Staunen und Wissen
Ein wichtiges Moment der Inszenierung ist das Staunen. Er steht in Verbindung mit der Naturforschung des 19. Jahrhunderts und lässt sich historisch zurückführen auf die sogenannte „Wunderkammer“, die die Zusammenkunft kostbarer und denkwürdiger Naturalien und Artefakte umfasste. In dieser Online-Serie soll das Staunen als erkenntnisfördernder Impuls reaktiviert werden.


Quellenangaben
[1] Johann Gottfried von Herder: Blumenlese aus morgenländischen Dichtern. Bd. 9, Hrsg. von Johann von Müller, Tübingen 1807 (Bd. 9 aus: Herders sämmtliche Werke. Zur schönen Literatur und Kunst. Hrsg. von Johann Georg Müller, Tübingen 1805-1820).
[2] Die weiß-blauen Rauten wurden mit der Gründung Bayerns zum Königreich im 19. Jahrhundert, als viele neue Landesteile hinzukamen, zum gesamtbayerischen Symbol.
[3] Vgl. zur Herstellung von Pergament u. a. Ahaspher von Brandt: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften. Stuttgart/Berlin/Köln 1996, S. 68-69.


Autorinnen: Gabriele Wiesemann, Isabelle Schwarz
Mit herzlichem Dank an Tobias Ranker, Stadtarchiv Füssen.
Redaktion und Gesamtprojekt: Isabelle Schwarz


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Foto Titelbild: Simon Toplak


Museum der Stadt Füssen
Lechhalde 3, 87629 Füssen

Abbildung der Tafel des Leaderprogramms mit Logos, europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums, mitfinanziert durch den bayerischen Staat
© Abbildung der Tafel des Leaderprogramms mit Logos, europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums, mitfinanziert durch den bayerischen Staat
Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Tourismus